Es ist immer dasselbe: Was irgendwie anstößig wirkt oder sogar verboten ist, das ist extrem reizvoll. Das wird besonders deutlich, wenn es um Sex geht.
Solange Sex ein Thema war, über das nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wurde, so lange wollte es jeder haben. Seitdem Sex jedoch überall präsent ist hat dies dazu geführt, dass die sexuelle Aktivität der Menschen insgesamt eher abgenommen hat. Dies liegt wohl schlicht und einfach daran, dass die Allgegenwart des Themas eher zum Lustkiller als zum Lustbooster geworden ist. Daher braucht es heute für viele Menschen neue bzw. andere Wege, um Sex wieder attraktiv zu machen und/oder die Lust neu zu entfachen.
Der Reiz des Tabuisierten
Offensichtlich sind es gerade die unerfüllten, oft verbotenen oder tabuisierten sexuellen Wünsche und Bedürfnisse, hinter denen sich eine große Triebkraft für den eigenen Umgang mit Sexualität versteckt. So erklärt sich auch, warum viele Menschen, die in einer festen Partnerschaft sind, sich nach einem außerpartnerschaftlichen Abenteuer sehnen und diese Sehnsucht nicht selten auch in Form einmaliger oder wiederkehrender Affären ausleben.
In vielen Partnerschaften scheint es Usus zu sein bzw. geworden zu sein, nicht über die eigenen sexuellen Wünsche und Bedürfnisse zu sprechen. Nicht selten passiert es daher, dass die Sexualität zwischen Partnern zu einer Art Pflichtprogramm wird oder sogar gänzlich einschläft. Anstatt miteinander ins Gespräch zu kommen wird das Thema von einem der beiden oder eventuell sogar von beiden ausgelagert.
Tabus sind Dinge, über die man nicht spricht, weil ohnehin alle daran denken.
Ralph Boller
Der Boom von Dating Apps wie Tinder, Joy Club, C-Date oder Bumble scheint dies zu bestätigen. Dort können in einem mehr oder weniger anonymen Rahmen bzw. Umfeld sexuelle Phantasien ausgesprochen und auch ausgelebt werden, die außerhalb dieser Dating App-Blase eher totgeschwiegen werden bzw. ungelebt bleiben. Hinzu kommt, dass es hier allen um das Gleiche geht. Ohne sich großartig erklären zu müssen suchen hier alle entweder eine Beziehung oder aber eine Affäre mit einem sexuell ebenfalls offenen Menschen. Der Reiz scheint darin verborgen, dass alle an dasselbe denken und dasselbe wollen.
Die Räume, in denen die Phantasien lebendig werden
Ähnlich verhält es sich auch mit Swingerclubs und Sexpartys. Ungehemmt bietet sich hier der Raum und treffen sich hier Menschen, um Phantasien auszuleben, die im Alltag bzw. im Ehebett bzw. der gemeinsamen Wohnung keine Rolle spielen, weil sie der Anstößigkeit zum Opfer fallen. Was auf der einen Seite in die Kategorie pervers und/oder nicht normal fällt und damit aus den eigenen vier Wänden ferngehalten werden soll, das findet an entsprechendem Ort und entsprechender Stelle mit Gleichgesinnten statt.
Wer sich (noch) nicht traut, die eigenen sexuellen Phantasien offen zu leben, der hat außerdem die Möglichkeit, seine unerfüllten tabuisierten Wünsche mit Hilfe von Pornos zu befriedigen. Hier scheint es kaum Tabus zu geben. Sex wird in allen möglichen Formen und Arten praktiziert. Keine Phantasie ist zu abartig, zu ungewöhnlich, zu extrem, was einerseits die angesprochene Allgegenwart von Sex und damit das zunehmende Desinteresse an sexueller Aktivität befeuert, andererseits aber auch einen Raum öffnet, in dem der Reiz des Verbotenen die Geilheit der Konsumenten/- innen potenziert.
So ist es immer ein Balanceakt zwischen einer Übersexualisierung, die in ein weniger an realem Sex mündet, und einem Raum, der entsteht, an dem unerfüllte, vermeintlich verbotene sexuelle Bedürfnisse gestillt werden können und an dem Menschen das bekommen, wonach sie sich sehnen: körperliche Verschmelzung in allen Facetten.